Warum wir jetzt eine progressive Allianz für Europa brauchen

Kommentar

Damit Europa eine Zukunft hat, braucht es eine progressive europäische Allianz. Warum das gerade jetzt so wichtig ist, argumentieren Sophie Pornschlegel, Florian Kommer und Henrik von Homeyer.

Globus / Blick auf Europa

Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Deutschland und Europa stehen vor kolossalen Herausforderungen. Ob erstarkende Autokratien, Rechtspopulismus, soziale Ungleichheit, Klimawandel, Digitalisierung oder Migration. Die Probleme werden in den nächsten Jahren eine neue Dimension einnehmen und sich nationalstaatlich nicht lösen lassen - und schon gar nicht mit der Merkel’schen Politik der kleinen Schritte. Gleichzeitig müsste allen EntscheidungsträgerInnen klar sein, dass diese transformativen Herausforderungen nur mit Hilfe eines starken Europa gelöst werden können. Und doch gibt es ein Jahr vor der Europawahl keine nennenswerte Fortschritte im europäischen Einigungsprozess.

Aus der Perspektive der jungen Generation erscheint die derzeitige Situation geradezu skurril. Eine klare Mehrheit junger EU-Bürger/innen identifiziert sich mit Europa und begreift sich in erster Linie als Europäer. Gleichzeitig ist die EU so beliebt wie nie zuvor: Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger/innen und 75 Prozent der Deutschen sind der Ansicht, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert. Das sind optimale Voraussetzungen, um endlich europapolitische Schritte zu wagen, die die Verantwortlichen viel zu lange hinausgezögert haben.

Das erfordert politischen Mut und eine neue Radikalität der linken Mitte. Der ZEIT-Journalist Bernd Ulrich hat diese Situation kürzlich sehr treffend in einem Meinungsbeitrag beschrieben: Wir brauchen eine Politik, „deren Radikalität symmetrisch ist zur Radikalität der Herausforderungen“. Das sollten sich progressive Kräfte zu Herzen nehmen - sonst könnte es für Europa bald zu spät sein.

Progressive müssen die europapolitische Agenda zurückerobern

Denn die Rechtspopulist/innen haben schon seit längerem die Kraft der Radikalität für sich entdeckt. Sie verschärfen den Ton immer weiter und treiben so den Rechtsruck der Öffentlichkeit in Deutschland und Europa voran. Seit drei Jahren dreht sich der politische Diskurs fast ausschließlich um die Themen Migration und Flucht. Dabei stehen für die Deutschen ganz andere Themen im Mittelpunkt, und zwar vor allem der Kampf gegen Altersarmut und für bessere Bildungschancen - klassische progressive Themen.

Der Erfolg der Populist/innen beruht unter anderem darauf, dass sie die einzigen sind, die den Wähler/innen noch eine “Zukunftsvision” bieten - auch wenn deren Zukunft ein Blick in die Vergangenheit ist. Gleichzeitig fehlen klare Visionen für ein starkes, demokratisches, solidarisches Europa. Weniger als ein Jahr vor den Europawahlen ist es höchste Zeit, sich pro-europäisch zu positionieren, um der EU eine neue Dynamik zu verleihen. Dass das möglich ist, hat zuletzt Emmanuel Macron während seiner Kampagne zur Präsidentschaftswahl 2017 gezeigt. Doch Visionen alleine reichen nicht aus, es braucht auch die dazugehörigen Organisationsformen, um Menschen europaweit zu überzeugen. Dafür müssen Progressive über ihren Schatten springen und sich endlich transnational organisieren.

Progressive können von Populisten eins lernen: Allianzen bilden!

Auch wenn wir noch weit von einer Internationalen der Nationalist/innen entfernt sind, so sieht man immer häufiger wie Rechtspopulist/innen und Rechtskonservative sich erfolgreich europaweit vernetzen: Sie bilden Koalitionen, um ihre menschenverachtende und rückwärtsgewandte Politik in ganz Europa voranzutreiben. Zuletzt war es der rechtskonservative österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der von einer Achse Berlin-Wien-Rom sprach. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kündigte an, dass er die Europäische Volkspartei (EVP) von innen heraus nach dem Vorbild von Fidesz erneuern wolle. Der rechtsextreme italienische Innenminister Salvini plant einen nationalistischen Block für die Europawahl. Währenddessen verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Konservativen und Populist/innen. Die neue Riege der CSU flirtet etwa offen mit Orbán und fantasiert von nationalen Alleingängen. Diese politischen Bündnisse werden durch zivilgesellschaftliche Kräfte gestärkt: So bildet beispielsweise die rechtsextreme Identitäre Bewegung eine europäische Allianz, um ihre rechtsradikale Ideologie in ganz Europa zu verbreiten. Wenn Progressive diese Entwicklungen weiterhin verschlafen, könnten ab 2019 fast 30% Populisten und Nationalisten im Europäischen Parlament sitzen. Dann wird es besonders schwierig noch für eine europafreundliche politische Agenda zu kämpfen.

Unsere Antwort muss deshalb eine progressive europäische Allianz aus Politik, Zivilgesellschaft und Kultur sein. In Deutschland kommt der SPD als Regierungspartei dabei eine besondere Verantwortung zu. Sie gibt sich derzeit mit mutlosen Kompromissen, zuletzt zur Eurozone, zufrieden. Doch eine Antwort auf Macron ist noch kein Wert an sich. Jetzt kommt es auf die vielen leidenschaftlichen Europäer/innen in der Partei an nicht nur über Europa zu reden, sondern konkreten Gestaltungswillen zu zeigen. In der Opposition sind die Grünen die einzig überzeugende pro-europäische Kraft – das ist Auftrag und Verantwortung zugleich. In Sachen Europapolitik müssen sie jetzt Visionen entwickeln und Mut beweisen, um die anderen Parteien zum Handeln zu zwingen. Denn in der CDU, der FDP und bei der Linken gibt es überzeugte Europäer/innen, die man gegen den Rechtspopulismus in Europa mobilisieren kann. Auch in vielen anderen Ländern gibt es noch immer pro-europäische Mehrheiten, mit denen wir uns verbünden müssen. In Paris, Madrid oder Lissabon gibt es klar pro-europäische Regierungen. Aber auch in Ländern wie Italien, Polen und Ungarn gibt es zivilgesellschaftliche Akteure, die tagtäglich für Europa kämpfen. Diese gilt es jetzt stärker als je zuvor zu unterstützen. Über Partei- und Landesgrenzen hinaus braucht es jetzt eine möglichst breite Allianz für ein starkes Europa. Für eine progressive Alternative zum Status Quo.

Die politischen Ideen gibt es schon. Wo bleibt der Mut, diese umzusetzen?

Viele politische Ideen für eine progressive Europa-Agenda existieren schon: Die Eurozone vertiefen und demokratisieren, ein soziales Europa aufbauen und den Klimawandel gemeinsam bekämpfen. Dafür braucht es zum Beispiel eine europäische Steuer auf Finanztransaktionen, auf Digitalunternehmen und europäische Mindestbesteuerungsregeln, um Steuerdumping zu beenden. Eine europäische Energiewende wäre schneller, günstiger und viel effektiver als nationale Alleingänge. Und auch mit Blick auf eine Demokratisierung der EU und für ein “soziales Europa” gibt es bereits Vorschläge - etwa in Form transnationaler Listen oder einer gemeinsamen europäischen Arbeitslosenversicherung. Ebenso kann es auf die Flüchtlingsfrage nur eine europäische Antwort geben. So zum Beispiel der Vorschlag von Gerald Knaus und Gesine Schwan, die kürzlich einen Kommunalen Integrations- und Entwicklungsfonds vorschlugen, welcher Asylverfahren vereinheitlichen und beschleunigen und besonders betroffene Regionen finanziell unterstützen würde. Es fehlt also nicht an Ideen. Es fehlt vielmehr an Gestaltungswillen und Mut, sie durchzusetzen.

Natürlich ist es einfach zu fordern, dass die Politik mutiger werden muss. Doch gerade progressive Kräfte verlieren sich oft in technokratischen Details, da sie den Anspruch vertreten, nicht nur einfache Parolen zu liefern. Dabei darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass die derzeitige Situation alternativlos sei. Ungleichheit kann bekämpft werden, der Klimawandel kann verlangsamt werden, Migrations- und Flüchtlingspolitik kann kontrollierter, gerechter und humaner aussehen, Europa kann demokratischer werden - wenn wir den politischen Mut dafür aufbringen. Jetzt ist nicht die Zeit zu verzagen.

Der US-amerikanische Präsident Obama sprach schon 2006 von der “Audacity of Hope” (Die Mut der Hoffnung). Die müssen endlich auch wir Europäer/innen entdecken. Denn gerade als junge Generation möchten wir nicht als Schlafwandler inmitten einer heraufziehenden Großkrise in die Geschichte eingehen. Um Thomas Mann zu zitieren: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht." Wir sollten dringend anfangen, dieses Gleichgewicht in Europa wiederherzustellen. 

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Tagesspiegel Causa.